Minoritär-Werden

Um das Minoritär-Werden zu beschreiben, muss zuerst geklärt werden, was mit minoritär, minder oder klein gemeint ist. Felix Guattari (1930–1992) und Gilles Deleuze (1925–1995) führen diese Begriffe nicht schon durch Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I (1972) ein, sondern erst mit Kafka – Für eine kleine Literatur (1975). Darin wurde das Schreiben zur Maschinensache gemacht. Ein Mensch, der schreibt ist "ein Maschinenmensch".1 Nicht nur ist das Schreiben maschinell, sondern mit dem Schreiben werden Literatur- und Ausdrucksmaschinen erschaffen. Laut Guattari und Deleuze experimentierte Kafka mit Schreibmaschinerien, deren Komponenten aus seinen Briefen, Erzählungen und Romane bestehen.2 Kafkas Schreiben wäre als ein minoritäres Schreiben, das nicht aus minderen Sprachartikulationen, sondern selbstverständlich aus mehrheitlichen, großen Sprachelementen "gemacht wird" und "sich einer großen Sprache bedient" zu betrachten.3 Das minoritäre Schreiben und die minoritäre Literatur machen sowohl alles politisch als auch alles zur Komponente eines kollektiven Gefüges, gleichzeitig wird alles deterritorialisiert.4 Dabei geht es schließlich, im Zuge mächtiger, das heißt großer Kollektivträume und Wunschgefüge, um die Schaffung widerständiger Gegenträume.5 Das Minoritär-Werden durch Schreiben hat zuallererst zwei Funktionen, nämlich Transkription und Demontage.6 Guattari und Deleuze präzisieren: "Eine solche Methode der aktiven Zersetzung operiert nicht mehr mit einer Kritik, die selber noch Teil der Vorstellung ist; sie besteht vielmehr darin, eine in der Gesellschaft bereits vorhandene Bewegung in die Zukunft zu verlängern und zu beschleunigen."7 Eine guattari-deleuzianische Kritik wird aktiv und operiert von Innen, transkribiert und demontiert Einsichten, schreibt diese in Maschinen um, macht sie zu Komponenten eines maschinelle Gefüges, modelliert und extrapoliert vorhandene Bewegungen und Prozesse in die Zukunft und zeigt Übertreibungen, Dystopien, Träume, Utopien, die ästhetische Erfahrungen sowohl positiver, hoffnungsvoller, als auch negativer, dystopischer Art provozieren.

In Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II (1980/1992) wurde das Minoritär-Werden an mehreren Stellen zugespitzt, etwa durch das minoritäre Werden. Man wird nicht irgendwann minoritär, bereits das Werden als solches bildet den Beginn des Minoritären. Das bedeutet, "die Minorität [ist] das Werden von Jedermann [...], sein mögliches Werden in dem Maße, in dem er vom Modell abweicht", und so müsste das Große, das Majoritäre betrachtet werden "als homogenes und konstantes System, die Minoritäten als Sub-Systeme und das Minoritäre als mögliches, kreatives und geschaffenes Werden. Es geht niemals darum, die Majorität zu erringen, auch nicht, indem man eine neue Konstante bildet. Es gibt kein Majoritär-Werden, Majorität ist niemals ein Werden. Es gibt nur ein minoritäres Werden."8 Für Guattari und Deleuze bildet das Majoritäre einen Zustand, einen Monolithen, eine Schicht, die sich nicht verändert. Folglich gibt es auch das Minoritäre nicht als Status oder Gesamtheit, sondern nur als Werden, als Prozess.9 Alle Prozesse des Werdens, wie etwa auch der Zerfall, die Erosion sind bereits solche, die das Minoritäre beinhalten. Zerfall und Demontage sind schöpferisch indem sie neue Gefüge, neue Zusammensetzungen, neue Zustände ermöglichen. Minoritäres Werden ist überall auffindbar in Arbeit, Produktion, Distribution, Konsumption, in Speicherung, Übertragung und Komputation. Prozesse des Werdens können nicht vollständig erfasst werden. "Das minoritäre Werden als uni­verselle Gestalt des Bewußtseins heißt Autonomie. Man wird sicherlich nicht revolutionär, weil man eine minoritäre Sprache als Dialekt benutzt, weil man für den Regionalismus eintritt oder ein Getto bildet. Man erfindet vielmehr ein unvorhersehbares spezifisches autonomes Werden, indem man viele minoritäre Elemente benutzt und verbindet."10 Minoritäres Werden ist folglich auch autonomes, eigensinniges Werden, eine "politische Angelegenheit und erfordert einen Kraftaufwand, eine aktive Mikropolitik",11 die sich darüberhinaus der "Macht des Nicht-Zählbaren"12 zu eigen macht. Schließlich geht es einer sich-im-Werden-befindlichen Minorität "eher darum, den Kapitalismus abzuschaffen, den Sozialismus neu zu definieren und eine Kriegsmaschine zu schaffen, die sich mit anderen Mittel gegen die weltweite Kriegsmaschine wehren kann."13 Statt zu stagnieren und alles (Maschinen, Technologien, Werte, Eigentum etc.) zu konservieren und dementsprechend erfassbar, zählbar, datierbar zu bleiben, muss alles veränderlich gemacht werden.

Frage: Wie lässt sich das Minoritär-Werden und das minoritäre Werden als Medien-Werden oder mediales Werden begreifen?

These: Friedrich Kittlers Programmierwerk ist ein Effekt seines minoritär Werdens zu verstehen!


Zitationsvorschlag: Miyazaki, Shintaro (2024): Eintrag, "Minoritär-Werden" in, Catalogue, Katalog. URL: https://init-c.de/catalogue/ ("Abrufdatum").


  1. Deleuze, Gilles, und Félix Guattari. Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976, hier 13. 

  2. Ebd., 40. 

  3. Ebd., 24 und Gilles Deleuze, Félix Guattari. Kafka. Pour une littérature mineure, Paris: Éditions de Minuit, 1975, hier 29. Die Stelle in voller Länge lautet: "Une littérature mineure n'est pas celle d'une langue mineure, plutôt celle qu'une minorité fait dans une langue majeure." Die deutsche Übersetzung lautet: "Eine kleine oder mindere Literatur ist nicht die Literatur einer kleinen Sprache, sondern die einer Minderheit, die sich einer großen Sprache bedient." 

  4. Deleuze/ Guattari. Kafka, 25–27. "l'agencement collectif d'énonciation" wurde hier mit "kollektive Aussageverkettung" (im französischen Original auf Seite 33) übersetzt, was ich heutzutage mit kollektives AusdrucksGEFÜGE übersetzen würde. 

  5. Ebd., 39. "Doch es geht um den entgegengesetzten Traum: klein werden zu können, ein Klein-Werden zu schaffen." Im französischen Original auf Seite 50: "Faire le rêve contraire: savoir créer un devenir-mineur." 

  6. Ebd., 65. 

  7. Ebd., 67. 

  8. Vgl. zum ganzen Abschnitt: Deleuze, Gilles, und Felix Guattari. Tausend Plateaus – Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin: Merve, 1992, hier 147. 

  9. Ebd., 396. 

  10. Ebd., 148. 

  11. Ebd., 397. 

  12. Ebd., 652. 

  13. Ebd., 654.