Medien-Werden

Maschinentheorie ist nicht immer Medientheorie. Es bedarf einer Verschiebung, Durchkreuzung oder anderen theoretischen Operation. Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Joseph Vogl (geb. 1957) schrieb in den 2000er-Jahren den Auftakt dazu und schlug vier Bedingungen für das Medien-Werden vormals rein instrumenteller Gefüge vor.1 Sein Beispiel war das Fernrohr bei Galileo Galilei. Instrumente werden zu Medien, erstens (1) durch eine Technisierung der Sinne und durch eine Rationalisierung sinnlicher Wahrnehmung, wie etwa das Sehen beim Fernrohr. Die optische Apparatur eines Teleskops ist künstlich und derart unnatürlich, dass sie den Sehsinn redefiniert. Sehen wird als optische Apparatur, die auf optischen Gesetzen beruht, konzipiert. Damit geht eine Experimentalisierung der medialisierten Wahrnehmungsweise einher, die konstruiert (gebaut, programmiert, verschaltet) und transformiert werden kann. Die Wahrnehmungsweise wird künstlich erweiterbar. Zweitens (2), ist beim Medien-Werden, die, ich zitiere "Herstellung einer grundlegenden Selbstreferenz",2 zu diagnostizieren. Dies führt auch zu einer Relativierung und Dezentrierung des Wahrnehmungsgefüges, das heißt der betrachtenden oder nutzenden Entität, meist wäre dies ein menschliches Individuum. Gewisse Tiere können vermutlich auch wahrnehmungsverändernde Technologien benutzen. Gleichzeitig kommt es, drittens (3), zur Erzeugung anästhetischer Bereiche und Felder; denn die Funktionsweise eines Mediums als-solches ist nicht wahrnehmbar. Das Sehen mit dem Fernroh ist unsichtbar. Frei nach Karl Marx liegt eine Entfremdung der Sinne vor. Gleichzeitig werden Wahrnehmungsgrenzen verschoben. Beim Sehen mit dem Fernrohr wird vormals unsichtbares sichtbar. Diese Grenzen verschieben sich ständig, werden re-definiert, so dass auch die Vorläufigkeit, Instabilität und Offenheit medial-geprägter Wahrnehmung, merklich wird. "Medien machen lesbar, hörbar, sichtbar, wahrnehmbar, all das aber mit einer Tendenz, sich selbst und ihre konstitutive Beteiligung an all diesen Sinnlichkeiten zu löschen und also gleichsam unwahrnehmbar, anästhetisch [...] zu werden."3 Und so lässt sich dann folgern, dass es viertens (4) "keine Medien gibt, keine Medien jedenfalls in einem substanziellen und historisch dauerhaften Sinn. [...] Medien sind nicht auf eine bestimmte Technologie (etwa Buchdruck oder Elektrizität), nicht auf bestimmte Geräte oder Maschinen (wie etwa Teleskop, Telegraf oder Telefon), nicht auf symbolische Formen (etwa Perspektive in der Malerei), nicht auf Gattungen in weitesten Sinn (Literatur oder Film), nicht auf eine Institution (Theater), nicht auf eine soziale Funktion (etwa Massenmedien) oder bestimmte Symboliken (alphanumerischer Code) reduzierbar und doch in all dem virulent."4

Medien werden also erst in spezifischen Momenten in je spezifischen Anordnungen, Verkettungen, Gefüge zu Medien und erlangen erst dann eine Operativität, die diese zu mehr-als-instrumentellen Gefüge machen. Dabei werden Wahrnehmungs-, Handlungs- und Denkweisen erstens erweitert, man kann mehr Sehen, besser Hören, besser speichern, über größere Distanzen hinweg sprechen, gleichzeitig werden die Sinne technisiert, zweitens jedoch auch entfremdet und unwahrnehmbar gemacht. Drittens führt dies zur Selbstreflektion nicht nur der Nutzer:innen technischer Instrumente, die als Medien ihr Selbstbild transformieren, sondern das Gefüges kann sich teilweise selbst transformieren. Die Instrumente werden aktiv, erhalten dadurch einen Eigensinn und werden so zu Medien.

Das Medien-Werden ist aber erstens kein irreversibler Prozess, Medien können schnell auch wieder zu Instrumente der Macht werden. Oft scheint es mir, dass viele Medientechnologien im Bereich technowissenschaftlicher Experimente und Erkenntnisproduktion in einer ersten Phase keine stabilen Instrumente, sondern eher instabile Medien waren, und diese dann in einer zweiten Phase durch Kommerzialisierung zu stabilen Instrumenten wurden, die dann wiederum in einem letzten Schritt durch Künstler:innen und kritische Genoss:innen in eigensinnige Medien transformiert werden können.5 Zweitens tauchen im Umfeld von Medien stets weitere Medien auf, die sich oft miteinander verketten, weil andere Sinne adressieren: Visuelle Kurven machen akustische Klänge, Schwingungen speicher-, mess- und sichtbar. Drittens entsteht Medien-Werdung aus einem Restpotential eines Widerstandes gegen eine vollständige Erfassung eines Instruments. Selbst Instrumente lassen sich nicht vollständig als Instrumente beherrschen, das was nicht beherrschbar ist, artikuliert sich als Eigensinn. Viertens stellt sich damit die Frage nach der Intensität des Eigensinnigen: Liegt ein Eigensinn bereits vor, wenn ein Kanal als Filter erkannt wird?

Frage: Wie verhält sich das Medien-Werden zum Tier-Werden oder zum Minoritär-Werden nach Deleuze-Guattari? Was wäre Medium-Werden (Vgl. dazu das siebte Kapitel in Kafka – Für eine kleine Literatur (1975) über Verbindungselemente)?


Zitationsvorschlag: Miyazaki, Shintaro (2024): Eintrag, "Medien-Werden" in, Catalogue, Katalog. URL: https://init-c.de/catalogue/ ("Abrufdatum").


  1. Joseph Vogl: Medien-Werden: Galileis Fernrohr, in: Archiv für Mediengeschichte, Bd. 1, 2001, 115–123. 

  2. Ebd., 116. 

  3. 122. 

  4. 121f. 

  5. Vgl. hierzu Rolf Grossmann: Spiegelbild, Spiegel, leerer Spiegel. – Zur Mediensituation der Click & Cuts, in: Marcus S Kleiner, Achim Szepanski (Hg.): Soundcultures – über elektronische und digitale Musik, Frankfurt am Main 2003, 52–68, hier 54f.