Kittler

Das Verhältnis der drei berühmten Werke, die Guattari und Deleuze in den 1970er Jahren geschrieben haben, also Anti-Ödipus (1972), Kafka – Für eine kleine Literatur (1975) und Tausend Plateaus (1980, dt. Übersetzung erst 1992) und jenen von Friedrich Kittler (1943–2011), wie Aufschreibesysteme 1800 1900 (1985) oder Grammophon Film Typerwriter (1986), ist noch ein relativ unartikuliertes Gefüge. In den ersten paar Seiten von Aufschreibesysteme gibt es nur eine kleine, aber entscheidende Fußnote, die zu den Tausend Plateaus führt, die Kittler als Romanist im französischen Original las. Diese stützt sich auf das Hauptargument im ersten Teil, dass nämlich das Aufschreibesystem 1800 als Dispositiv des Staates in Betrieb gesetzt wurde (durch viel kulturelle und reproduktive Arbeit), um neue Bürger:innen durch die Kulturtechniken Lesen und Schreiben programmierbar zu erziehen. Das heißt im Klartext, dass nur durch ein weit verbreitetes Lesen und Schreiben die bürokratische Maschinerie namens Staat aufgesetzt werden konnte. Neue Bürger:innen neuer Staaten sollen bürokratische Dokumente lesen und unterschreiben konnten, nur so lässt sich ein funktionierender Staat aufbauen. Im Rahmen seiner Analyse von Goethes Faust schreibt Kittler, (es geht um den Pakt mit dem Teufel): "Der Teufel ist nichts anderes als Macht, Faust auf einen Text zu stoßen, der nicht verstehen und nicht verstanden werden kann, sondern selber Macht ist. Mephisto verlangt von Faust eine Unterschrift. Unterschriften, wie Gesetzbücher auch, programmieren Leute, ohne den Umweg Verstehen einzuschlagen."1. Es gibt also Textformen, wie Verträge, die Leser:innen befehlen und auffordern (promten im aktuellen Jargon) zu unterschreiben. Dazu müssen die Leute aber Lesen und Schreiben können. Guattari und Deleuze formulieren das folgendermaßen: "Eine Lehrerin [...] 'unterweist', sie gibt Anordnungen, sie kommandiert. [...] Die Maschine der Schulpflicht übermittelt keine Informationen[.]"2 Die Bezüge und Parallelen sind sehr deutlich.

Im posthum in der Zeitschrift für Medienwissenschaft, Band 6, publizierten Vorwort zu Aufschreibesysteme, die Kittler im Rahmen seines Habilitationsverfahren formulierte, gibt es einen weiteren Verweis auf Guattari und Deleuze, der hier wichtig ist, denn in Aufschreibesysteme geht es neben vielen weiteren Aspekten auch um die Querverbindungen zwischen "Kafka und Medientechniken"3 wofür Kittler explizit auf Deleuze und Guattari referriert. Hier haben wir also einer der wenigen direkten Verweise auf das zweite Buch von Guattari und Deleuze, Kafka – Für eine kleine Literatur (1975), worin der Begriff des Minoritären und Minoritär-Werden prominent auftaucht und als theoretisches Werkzeug vorgeschlagen wird.

Kittler war bekanntlich kein Schriftsteller, obwohl seine Texte oft ähnlich wie jene von Guattari und Deleuze wie literarische Experimente wirken. Er war jedoch gleichzeitig nicht nur ein Elektronik-Bastler, sondern auch Software-Programmierer und führte das experimentelle, minoritäre Schreiben von K., als K. in andere Schichten und Gefüge fort: Die Bewegung ging von den Papier-Schreibmaschine-Druckmaschinen-Buchstaben-Gefügen zu den Halbleiter-Elektronik-Signalgefügen, um dann verschränkt und synthetisiert in Hardware-Software-Computer-Bildschirm-Tastatur-Gefüge zu münden. Kittler schreibt an seiner PC-Maschine, tippt in die Tastatur ein, und es entstehen dabei Programme, Algorithmen, die in algorithmischen Maschinengefügen tanzen. Dabei transkribiert er mathematische Modelle in Programmcode, falls er das nicht alleine schafft, holt er sich Hilfe und kopiert aus der Zeitschrift c´t oder anderen Quellen. Kittler schließt sich an bestehende Maschinengefüge an, schreibt sie fort. Dabei demontiert er auch technomathematische Maschinen und Modelle, zieht sie aus dem militärischen Kontext heraus und präsentiert sie als Spiele und Demos. Kittler setzte also eine Bewegung in Gang, die auch heute noch versucht weitere minoritäre Maschinen zu bauen, zu programmieren und kontinuierlich an den im Alltag wirkenden Programmcodes weiter zu basteln im Sinne eines Minoritär-Werdens und einer kreativ-kritischen Komputation.

Nochmals zugespitzt artikuliert: Wenn Schreiben und Lesen ursprünglich Teil eines Regierungsprogramms waren, um Menschen programmierbar zu machen, dann sind Programmiersprachen Eskalationen davon. Und, wenn es minoritäre Literatur gab, die diese Bürokratien aufdeckten, transkribierten und demontierten, dann gäbe es bald danach auch minoritäre Softwaremaschinen, die Gegenwelten und Gegenmaschinen gegen die eskalierten Bürokratien und Schichten (in Anlehnung an den Kalifornischen Medientheoretiker Benjamin Bratton, könnten sie als STACK bezeichnet werden) bilden würden.


Zitationsvorschlag: Miyazaki, Shintaro (2024): Eintrag, "Kittler" in, Catalogue, Katalog. URL: https://init-c.de/catalogue/ ("Abrufdatum").


  1. Kittler, Friedrich. Aufschreibesysteme 1800|1900. 4. vollständ. überarb. (1. Auflage, 1985). München: Wilhelm Fink, 2003, hier S. 28f. 

  2. Deleuze, Gilles, und Felix Guattari. Tausend Plateaus – Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin: Merve, 1992, hier 106. 

  3. Seite 18 des Typoskripts, publiziert in: Kittler, Friedrich. „Aufschreibesysteme 1980/2010. In memoriam Friedrich Kittler - AUFSCHREIBESYSTEME 1800/1900 Vorwort“. In Zeitschrift für Medienwissenschaft 6 2012/1, herausgegeben von Ute Holl und Claus Pias, 117–26. Diaphanes, 2012, hier 123.